[gelesen] Mein Bruder heißt Jessica von John Boyne

© KJB (Fischer Verlag)

Mein Bruder heißt Jessica

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John Boyne
erschienen September 2020
ab 12 Jahren
256 Seiten
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KJB (Fischer Verlag)
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bringt viele Emotionen und Gedanken mit sich

Für Sam ist sein großer Bruder Jason eine wichtige Stütze. Er hilft ihm bei den Schularbeiten und hört ihm zu, wenn er Sorgen hat. Die Brüder könnten kaum verschiedener sein. Jason ist beliebt, aufgeschlossen und der Beste in der Fußballmannschaft. Sam ist eher eine Niete im Sport, ein Einzelgänger, still und zurückgezogen. Die Eltern der beiden sind vielbeschäftigt, so dass die Brüder oft auf sich gestellt sind, wenn sie Sachen zu besprechen haben. Und dann kommt der Tag, der alles verändern wird. Sams stabile Geschwisterbeziehung gerät ins Wanken und er versteht die Welt einfach nicht mehr. Sein Bruder will nicht mehr sein Bruder sein? Aber wie kann er nun einfach seine Schwester sein wollen? Für alle in der Familie eine Situation, die viele Herausforderungen, Ängste und Gedanken mit sich bringt.

Wie der Buchtitel schon vermuten lässt, begleitet man nicht Jason/Jessica selbst, sondern den Bruder, Sam. Die Ich-Perspektive bietet die Möglichkeit, sehr intensiv in die Gedanken- und Gefühlswelt des Dreizehnjährigen einzutauchen und mitzuerleben, was ihn an der neuen Situation alles beschäftigt, wie er versucht, die Welt wieder zu verstehen und welche Steine sich immer mal wieder in den Weg legen. Es geht aber nicht nur um Sam, die gesamte Familie steht im Fokus, allen voran natürlich der Siebzehnjährige Jason, der sich im Verlauf des Buches als transgender outet und damit für reichlich Unruhe innerhalb der Familie sorgt. Auch die Eltern der Geschwister nehmen eine zentrale Position ein. Hier und da tauchen auch andere Charaktere auf, die  meistens eher am Rand eine Rolle spielen, aber nicht unwichtig sind, um ein breitgefächertes Meinungsbild zu erhalten.

Ich hatte beim Lesen dieser Geschichte ganz unterschiedliche Gefühle. Die Eltern fand ich über weite Strecken wirklich einfach nur furchtbar! Die Mutter strebt ein hohes politisches Amt an, ihr Mann steht treu an ihrer Seite, will zwar nicht selbst in die Führungsposition, unterstützt seine Frau aber, wo er kann, bearbeitet den Papierkram und so weiter. Die politische Lage des Landes fließt hier auch an der einen oder anderen Stelle in die Handlung mit ein. Durch die Jobs haben sie nur sehr wenig Zeit für ihre Kinder, oft ist einfach die Arbeit wichtiger und ständig denken sie darüber nach, was dieses oder jenes für eine Außenwirkung haben könnte. Können sie sich an diesem oder jenem Ort zeigen? Zieht das nicht Gerede nach sich? Ein Urlaub an einem Fleck, auf den man Lust hat? Ziemlich unmöglich, schließlich könnte man damit ein Statement setzen, das man nicht setzen will. Wie es den Kindern damit geht? Tja, wen interessiert es, Hauptsache die politische Karriere nimmt seinen Gang. Ein Sohn, der schon ewig spürt, dass er eigentlich ein Mädchen ist und nun dafür einstehen will, dass es anerkannt wird, passt da so gar nicht in den Kram! Zum einen verstehen sie Jasons Situation wohl auch einfach nicht, was man vielleicht sogar noch nachvollziehen kann. Wenn man sich mit dem Thema nicht selbst befasst, betroffen ist oder Betroffene kennt, ist es sicher erst mal etwas ungewöhnlich, vielleicht auch befremdlich oder beängstigend, weil man nicht gut abschätzen kann, was sich dann alles ändert, was das nun bedeutet, ob das wieder vorbeigeht und so weiter. Zum anderen kommt hier aber noch mit dazu, dass es durch die Presse gehen wird, dass es Wählerstimmen kosten könnte, Getratsche und wer weiß was noch alles. Erst mal ein bisschen totschweigen und dann versuchen, dem Jungen das auszureden. Oder irgendwie anders aus ihm rauszuholen. Ich hatte zwischendurch so einen Hass auf die.
Etwas überspitzt? Vielleicht.
Völlig unrealistisch? Keinesfalls.
Sicherlich ist hier das eine oder andere etwas aufgebauschter, schon allein durch die berufliche Situation und wenn man bedenkt, dass sich die Eltern offensichtlich noch nie so richtig intensiv damit befasst haben, was ihre Kinder eigentlich wollen, solange es ins Bild passt und nicht negativ auffällt. Trotzdem denke ich, Betroffene könnten ähnliche Reaktionen bekommen, sicher nicht jeder, manche vielleicht auch eher abgeschwächt. Wünschenswert wäre natürlich, dass sie mehr Toleranz entgegen gebracht bekommen, unterstützt und trotzdem einfach bedingungslos weiter geliebt werden. Das war im Buch nämlich lange Zeit einfach mal gar nicht zu spüren, selbst wenn beteuert wurde, wie wichtig die Kinder selbstverständlich wären und dass man ja nur das Beste will.

Auch in Sam geht so einiges vor. Er ist erst Dreizehn, gerade selbst am Beginn der Pubertät und er kann vieles einfach nicht so recht verstehen und sortieren. Oft wirkte er auf mich aber irgendwie jünger und unreifer, als ich es für einen Jungen in dem Alter erwartet hätte. Besonders hart trifft ihn, dass sein Bruder nun nicht mehr sein Bruder sein will. Er hatte nie eine Schwester und kann damit erst mal nicht viel anfangen. In ihm arbeitet es ziemlich und irgendwann tritt dann auch ein Wandel in seinem Denken ein. Zum Glück.

Besonders berührt und betroffen gemacht hat mich die Situation von Jason/Jessica. Es tat mir in der Seele weh, sie leiden zu sehen, mit all den furchtbaren Vorschlägen, die da kamen. Mit dem Unverständnis, den Zweifeln, den Anfeindungen, den bescheuerten Ideen, wie man alles wieder richten kann. Zwischendurch habe ich gedacht, dass die Perspektive von ihr vielleicht sogar noch intensiver gewesen wäre. Und das wäre es mit Sicherheit, allerdings erhält man so eben einen anderen Blickwinkel auf das Thema, den ich ebenfalls gut fand. Denn nicht nur für die betroffene Person, auch für das Umfeld bringt so eine Offenbarung Veränderungen mit sich. Ängste, Zweifel, Unsicherheit. Vielleicht traut man sich auch nicht, das eine oder andere anzusprechen, möchte nichts Falsches sagen und scheut sich auch einfach vor den Dingen, die dann nicht mehr sind, wie zuvor. Man hat vielleicht auch das Gefühl, etwas aufgeben zu müssen, was einem bisher immer gut gefallen hat. Jeder hat da andere Gedanken und Emotionen, befasst sich auf ganz eigene Weise damit und muss einen Weg finden, sich zu sortieren. Und dann ist da natürlich noch die breite Masse rundrum, die vielleicht redet, lästert, mobbt, sich mies verhält. Es geht sie alle natürlich im Grunde nichts an. Das kann man auch leicht denken und sagen, wenn man in keiner Weise involviert ist, aber wenn man eben ehrlich ist, dann mischen sich die Menschen viel zu gern in Sachen ein, die sie nichts angehen, bilden sich eine Meinung, sind intolerant und haben Vorurteile. Vielleicht kann die Sichtweise von Sam also auch einfach ein bisschen die Augen dafür öffnen, was in anderen vorgeht oder vorgehen kann. Was nicht heißen soll, dass ich es gut finde, wie ablehnend sie alle sind. Inzwischen hofft man wohl einfach, es gibt mehr Toleranz und Offenheit für das Thema. Jeder sollte glücklich sein dürfen und dazu gehört eben auch, sich in seinem Körper wohl zu fühlen, was schlecht geht, wenn man im falschen steckt.

In diesem Buch stecken viele wichtige Botschaften und verschiedene Sichtweisen, die hoffentlich zum Nachdenken anregen. Hier prallen gewissermaßen Welten aufeinander, die ziemlich intensive Gefühle auslösen, bei allen Beteiligten. Es wird ein facettenreiches Stimmungsbild gezeigt, von sofortigem Verständnis und Unterstützung, über „was spielt es für eine Rolle“ bis hin zu Freak und „bekommen wir das wieder weg“. Gemeine Sprüche, fiese Aktionen, Geschrei, Streit, Therapieversuche, persönliche Entfaltung, Sehnsucht, Freundschaft, Zusammenhalt – es steckt so viel zwischen den Buchdeckeln.
Zu seinen eigenen Empfindungen zu stehen, ist sicher nicht leicht, offene Gespräche und der Versuch seinen Gegenüber zu verstehen, können aber so hilfreich und heilsam sein.
Für mich wirkte das Buch über lange Zeit sehr negativ von der Stimmungslage, was verständlich war aufgrund der Meinungen der Familie und der Art, wie sie mit all dem umgehen. Und doch hätte ich mir zwischendurch mehr Hoffnung und positive Aspekte gewünscht, wie schwer auch immer das alles für die Familie Waver sein mag. Über viele Kapitel hinweg vergessen sie, um wen es wirklich geht und denken nur an sich selbst, werfen aber anderen vor, egoistisch zu sein.

Fazit

Das Buch hat sich sehr zügig lesen lassen. Trotz der ernsten Thematik empfand ich es insgesamt als leichtgängig. Sams Sichtweise wirkt manchmal noch sehr kindlich, er ist aber auch erst Dreizehn. Die kleinen Auflistungen, die er zwischendurch einschiebt, unterstützen den etwas unreifen Eindruck, lockern aber den Text an sich dennoch auf. Hier prallen unterschiedliche Meinungen und Emotionen aufeinander. Einige der Figuren fand ich einfach nur gruselig und schrecklich, aber leider eben auch nicht völlig unrealistisch, dass es sie gibt. Auch wenn nicht Jessica berichtet, so dreht sich doch alles in gewisser Weise um sie. Eine interessante Art, das Thema anzugehen, ohne die Perspektive der betroffenen Person direkt zu zeigen. Sicher ein wichtiges Buch mit verschiedenen Botschaften, auch wenn ich es mir hier und da etwas hoffnungsvoller und positiver gewünscht hätte.

4 Gedanken zu „[gelesen] Mein Bruder heißt Jessica von John Boyne“

  1. Das Buch habe ich noch auf der Wunschliste. Bin aber irgendwie unsicher, ob ich es wirklich lesen will, weil die Meinungen dazu doch etwas auseinander gehen. Und gerade dieses überspitzt Negative finde ich auch immer schwer zu ertragen. Aber vllt leihe ich es mir mal aus der Bücherei aus. 🙂

    LG Alica

    1. Hallo Alica,
      gerade wenn man unsicher ist, ob das Buch etwas für einen ist, finde ich die Möglichkeit mit der Bibliothek sehr gut. Ich hätte es mir jetzt vermutlich auch nicht gekauft, aber da ich es dort habe stehen sehen, habe ich es mal mitgenommen. Ich kann auch gut verstehen dass die Meinungen hier durchaus auch auseinander gehen. Es ist eine andere Betrachtungsweise, als ich erwartet hatte. Und ich fand die Familie teilweise wirklich richtig grauenvoll. Da ist man auch geneigt, viele Sterne abzuziehen, weil die einfach so furchtbar waren, aber es geht ja nun nicht unbedingt darum, dass man immer alle liebhaben muss, die im Buch vorkommen. Ich habe bisher nicht so intensiv in anderen Rezensionen gelesen, deswegen weiß ich jetzt nicht, was so die größten Kritikpunkte sind, aber ich verstehe, dass es da Sachen gäbe, die man nicht so mochte. Am Ende ist es eben auch einfach Geschmackssache.
      Liebe Grüße,
      Dana

  2. Hallo liebe Dana,
    ich muss sagen, dass du mich mit dieser Rezension sehr neugierig gemacht hast. Ich finde, der Autor baut mit dem Umfeld der Kinder (Eltern in einer hohen angesehenen Position und stark auf Außenwirkung bedacht), schon ein Setting auf, das für allerhand Spannungspotential sorgt.

    Natürlich ist es dann auch nicht einfach, wenn der Sohn sich als weiblich bekennt. Ich denke, diese Situation ist für alle nicht einfach. Für die Eltern, die so in ihrem starren Weltbild verfangen sind, wie auch für den kleinen Bruder, der das erstmal alles einordnen muss, als natürlich auch für Jason, der selbst vermutlich genug mit seinen Gedanken und Gefühlen beschäftigt ist und dann auch noch seinem Umfeld diese Veränderung begreiflich machen muss/will.

    Die bereits im Klappentext geschilderten Charaktereigenschaften von Jason und Sam lassen ebenfalls das Kopfkino spielen. Ich könnte mir vorstellen, dass Sam mit seiner zurückgezogenen und sensibelen Art sehr empfindlich für Kritik, Spot und Kommentare anderer Menschen ist.Jason klingt zwar auf den ersten Blick stark. Aber sicherlich ist es eben auch nicht einfach, wenn das Leben, das für ihn ja bislang im Großen und Ganzen ohne große Schwierigkeiten verlaufen ist, dann plötzlich zu kippen droht.

    Die Unterstützung der Familie und vor allen Dingen auch der Eltern ist unglaublich wichtig. Gerade auch in Zeiten der Veränderung. Ich finde es sehr schade, dass die Eltern den Kindern nicht die Unterstützung entgegenbringen, die sie benötigen. Aber wie du schon schreibst, ist dieses Verhalten wohl auch nicht abwägig.

    Ich danke dir für diesen Einblick in ein sehr wichtiges Buch.

    Ganz liebe Grüße
    Tanja :o)

    1. Hallo Tanja,
      ich stimme dir da auf jeden Fall zu, es ist sicher für alle erst mal eine Herausforderung und Umstellung und damit sicher auch nicht ganz einfach. Man muss sich dann auf die Veränderungen auch einfach einlasen wollen und bereit dafür sein, das mit zu tragen und Probleme mit zu ertragen.
      Natürlich wünscht man sich für die Betroffenen, dass es heutzutage alles sehr viel einfacher für sie ist und sie mehr Verständnis entgegengebracht bekommen usw. und ich denke, es ist sicher auch schon längst nicht mehr so starr, wie alles mal war, aber es ist eben trotzdem auch noch ein langer Weg hin bis zur Selbstverständlichkeit. Dafür hat man vielleicht auch zu wenig Berührungspunkte damit. Umso wichtiger, sich da ab und an Gedanken drüber zu machen und mal in andere Köpfe abzutauchen und zu sehen, wie es ihnen damit geht. Und dabei finde ich, spielt es dann auch gar nicht soo die Rolle, ob man wirklich die Gedanken und Gefühle komplett teilt. Es geht ja viel mehr darum, andere Perspektiven auch zu sehen und für sich selbst zu schauen, wie man das dann für sich bewertet. Oder was man selbst vielleicht lieber anders machen würde.
      Ich habe vor meiner Bewertung aber auch ein wenig darüber nachgedacht, wie ich das nun alles so finde und wie ich es bewerten möchte. eben weil ich die Familie teilweise wirklich furchtbar finde. Aber macht es das Buch schlecht? Eigentlich nicht.
      Liebe Grüße,
      Dana

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