[gelesen] Alle Farben von Licht von Annika Scheffel

Rezensionsexemplar

© Carlsen
Alle Farben von Licht
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Annika Scheffel
illustriert von Saskia Gaymann
erschienen im Juli 2024
480 Seiten
ab 14 Jahren
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Carlsen

 berührendes, nachdenkliches Jugendbuch

Es ist Sommer, die Ferien haben gerade begonnen und Rios Freunde sind wild entschlossen, diese Zeit in vollen Zügen zu genießen. Spaß haben, schwimmen gehen, feiern, gemeinsam chillen, lachen…. was 16jährige eben so machen, wenn die Schulpflichten sie für einige Zeit in Ruhe lassen. Rio bemüht sich, mit seinen Freunden mitzuhalten, obwohl es in ihm ganz anders als strahlend-bunt und freudig aussieht. Er fühlt sich schuldig. Wie kann er diesen Sommer genießen, wo doch seine Zwillingsschwester nicht mehr da ist? Tief gefangen in Trauer, Verzweiflung und Ängsten fällt es Rio immer schwerer, seinen Freunden etwas vorzuspielen und zieht sich immer mehr zurück, begibt sich auf die Suche nach Spuren von seiner Schwester Mavis, die ihm helfen könnten, dass es leichter wird, dass er verstehen kann. Eine ungeahnte Hilfe findet er in Franz, den er bisher eher als „Dracula“ in seinem Kopf abgespeichert hatte. Zusammen suchen sie verschiedene Orte und Personen in Berlin auf, an denen Mavis gewesen ist, kurz bevor sie starb. Kann das Rio dabei helfen, mehr Klarheit zu bekommen und sich einige der unzähligen Fragen zu beantworten? Aber was ist, wenn dabei nur tausend neue Fragen aufkommen, die so gar nichts mit Mavis zu tun haben. Sondern mit ihm. Mit seinen Gefühlen und Gedanken. Und mit Franz, der ihm mehr unter die Haut geht, als er sollte.

Dieses Jugendbuch ist keine leichte, zuckersüße Sommergeschichte. Es ist bildgewaltig, oftmals ernst, nachdenklich stimmend, stellenweise ziemlich bedrückend und trotzdem immer mal wieder mit federleichten Glücksmomenten versehen.
Der Stil war aus meiner Sicht schon besonders, zu Beginn empfand ich es als etwas eigenwillig, mit der Zeit habe ich mich aber gut reingelesen. Die oft poetische, bildhafte Sprache sorgt für eine besondere Atmosphäre beim Lesen, da die Worte sich schnell zu Bildern im Kopf formen und man immer tiefer in die Gedanken- und Gefühlsstruktur des Protagonisten eintaucht. Wiederholungen und Dopplungen sollen Aussagen oder Gedanken verstärken, manchmal auch überspitzen oder davon überzeugen, dass es auch ganz, ganz garantiert genau so ist und nicht anders. Es passt zu einem Sechzehnjährigen, in dessen Kopf wahnsinnig viel los ist, in dem sich oftmals alles überschlägt und viel durcheinander wirbelt, der manchmal nicht weiß, wohin mit sich und seinen Empfindungen. Ich musste mich dennoch erst mal daran gewöhnen. Sowohl an die Dopplungen als auch an die teilweise kurzen Sätze, die sehr anschaulich das Chaos im Kopf von Rio widerspiegeln, das manchmal vielleicht auch nur für ihn so richtig Sinn ergibt.
Der Verlust seiner Zwillingsschwester hat ihn verständlicherweise schwer getroffen und auch sein Umfeld verändert. Alles verändert sich und doch sperrt Rio sich, weil er sich nicht verändern will, nicht plötzlich wieder glücklich sein will, nicht ohne Mavis, ohne die alles anders, dumpf und grau ist. Man spürt, dass er noch mitten in der Trauerarbeit steckt und vielleicht auch gerade in eine Sackgasse geraten ist. Sein Umfeld geht anders mit dem Verlust um, viele von ihnen kommunizieren aber auch nicht viel darüber, vielleicht auch um Rio zu schützen, so bleibt er stellenweise aber doch irgendwie allein damit. Man spürt immer wieder, dass da einiges schief läuft und doch sind es auch viele verständliche Baustellen, die sich auftun, weil die Trauer und Verzweiflung natürlich nicht nur Rio gepackt haben. Neben all den Schwierigkeiten, die in die Handlung integriert sind, gibt es aber auch immer wieder Unterstützungs- und Hilfeangebote, die ebenfalls eine Rolle spielen und auf unterschiedliche Weise Anklang finden. Manchmal fragt man sich vielleicht, wieso das eine oder andere nicht früher gesehen oder schneller eingegriffen wurde. Allerdings muss man sich natürlich auch helfen lassen wollen und manchmal ist es viel einfacher zu glauben, wenn der andere sagt, es ist alles okay… besonders, wenn man selbst auch im Schmerz gefangen ist oder sich hilflos fühlt. Die Frage kam bei mir zwar schon auf, aber wenn man selbst in so einer Situation steckt, ist es eben etwas ganz anderes, als wenn man von außen draufschaut. Und es ist nicht so, dass es alle komplett ignorieren, die Versuche sind schon da.

Die Kapitel sind unterschiedlich lang gehalten, was die Dynamik in der Geschichte gut unterstützt hat. Enthalten sind auch immer wieder Abschnitte, in denen per Handy kommuniziert wird, inklusive zahlreicher Emojis, die manchmal wohl nur die Absendenden richtig zuordnen können. Für mich passte das aber gut in die Freundegruppe rund um Rio, die ja alle im gleichen Alter sind. Sie machen sich Sorgen um ihn, bieten ihm an, dass er sich melden kann, wenn er was braucht, versuchen ihn immer wieder zu überreden, Zeit mit ihnen zu verbringen, ihn abzulenken und aus seinem Schneckenhaus zu holen. Zeitweise entfernen sich ihre Wege allerdings eher voneinander, als dass sie aufeinander zugehen.
Und Rio verbringt vermehrt Zeit mit Franz, der für ihn ungefährlichere Gesellschaft ist, weil er von ihm nichts erwartet. Rio muss bei ihm nicht fröhlich sein und sein Leben genießen, weil doch gerade Sommer ist. Mit der Zeit lernen die beiden sich besser kennen und es entwickelt sich still und heimlich eine Nähe, die Rio guttut, ihn in gewisser Weise erdet und wieder aufrichtet, die sich für ihn aber doch auch ganz falsch anfühlt, wenn er darüber nachdenkt, weil wie kann er sich hier gerade verlieben, wo seine Schwester diese Möglichkeit nicht mehr bekommt? Und doch sind die leichteren, positiveren Augenblicke in der Geschichte enthalten, auch wenn sie wieder neue Gedanken und Gefühle mit sich bringen und manchmal auch Missverständnisse und Nichtreden dazu führen, dass Rio sich in seinem Kopf Dinge zusammenbaut, die so vielleicht nicht sind.
Innerhalb des Buches wurde es für mich stellenweise sehr emotional und aufwühlend, ich konnte intensiv mit Rio fühlen, dessen aufgewühlte, sich überschlagende Gedanken und Empfindungen man immer wieder detailliert mitbekommt. Man erlebt, wie er sich Stück für Stück verliert, Rettungsanker bekommt und trotzdem manchmal abgetrieben wird.

Durch die Anzahl und Komplexität der ernsten Themen ist keine ganz leichte Kost, für mich passte die Mischung im Buch aber dennoch, da man sich direkt zu Beginn auch darauf einstellen kann, dass man jetzt kein totales Gute-Laune-Buch erwarten darf. Ich fand es gut, dass direkt auf den ersten Seiten die Triggerthemen stehen, die es sonst ja eher zum Ende des Buches gibt. Zwar kann man so nicht entscheiden, ob man ans Ende blättern und sie lesen möchte, aber es sind eben einige sehr aufwühlende und bedrückende Themen enthalten, die darauf einstimmen, dass es manche Probleme im Buch geben wird, mit denen die Charaktere zu kämpfen haben werden. Am Ende des Buches gibt es dann auch noch mal Kontaktdaten zu Anlaufstellen, falls man selbst oder Personen im Umfeld ebenfalls von einem der Themen betroffen sind.

Fazit

Die Sommerferien sollten voller guter Laune, Spaß und toller Erlebnisse sein. Für Rio war es eher ein Verlorengehen und Wiedergefunden werden. Ein Fallen und wieder aufstehen, mit viel Unterstützung und ganz, ganz langsam. Ein Zweifeln, mit sich ringen und ungläubig erfahren, wie gut manche Dinge trotz der Trauer und des Verlustes tun können. Hoffnung haben und sie wieder verlieren, weil man nicht herausfindet, was man sich erhofft hat. Düstere, erdrückende Gedanken, innere Dämonen und auf der anderen Seite auch zarte Glücksmomenten, kleine Lichtblicke und helfende Hände, sie sich zu einem strecken, auch wenn es schwer fällt, sie zu greifen. Eine leichte, süße Sommerliebesgeschichte sollte man in diesem Jugendbuch nicht erwarten, denn die ernsten Themen stehen doch sehr viel mehr im Fokus, auch wenn es immer wieder auch die positiveren Augenblicke gibt. Berührend und aufwühlend, aber auch sehr mitnehmend durch den bildgewaltigen Stil.

 

Ich danke dem Verlag für das bereitgestellte Rezensionsexemplar.

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