[gelesen] Schattenjunge von Vaelis Vaughan

Rezensionsexemplar

©
Schattenjunge

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Vaelis Vaughan
erschienen Oktober 2022
Selfpublishing
502 Seiten
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Vaelis Vaughan
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düster, heftig, überraschend

Levin kann es kaum erwarten, sein Abitur in ein paar Monaten in der Tasche zu haben und dann die homophobe Kleinstadt zu verlassen, in der er wohnt. Sich öffentlich zu bekennen, führt unweigerlich zu Anfeindungen, Auseinandersetzungen, Sprüchen, abwertenden Blicken und einem ständigen unguten Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden. Auch wenn seinem bestem Freund Jessie das egal ist und dieser öffentlich und offensive zu seiner Sexualität steht, kommt das für den ruhigeren Levin nicht in Frage. Die beiden verschiedenen Freunde schmieden Zukunftspläne, wollen in die Großstadt und dort endlich freier leben können. Doch dann verschwindet Jessie und alles wird anders. Niemand glaubt Levin, der davon überzeugt ist, dass Jessie nicht einfach abgehauen ist. Sein Verschwinden muss etwas mit dem Mann zu tun haben, den er kurz zuvor kennengelernt hat. Ganz sicher. Levin sucht Jessie, findet aber lange Zeit keine Spur seines Freundes. Bis sich dann im Sommer 2006, kurz nach den Prüfungen, alles ändert und Levin in eine Situation gerät, von der er niemals gedacht hätte, sich da durchkämpfen zu müssen.

Dieses Buch ist wahrlich keine leichte Kost. Es enthält einige ziemlich heftige, düstere Themen, erschütternde Passagen und erschreckende Szenen, die in mir nachklangen. Für eine kleine, seichte Auszeit vom Alltag zum Abschalten und Wegträumen ist diese Geschichte aus meiner Sicht nicht geeignet. Man sollte sich schon darauf einstellen, dass es krass wird und dem einen oder anderen mit Sicherheit auch unter die Haut geht. Diese Empfindungen sind selbstverständlich individuell und sehr unterschiedlich.

Die Geschichte hat sich ganz anders entwickelt, als ich es zunächst erwartet hatte und so hat mich die Handlung immer wieder auf verschiedene Weisen überrascht. Es haben sich zwischendurch Wendungen aufgetan, die ich so nicht habe kommen sehen. Die Ereignisse haben immer wieder ganz unterschiedliche Gefühle und Gedanken in mir geweckt und ich musste das alles ein wenig ruhen lassen, bevor ich meine Rezension formulieren konnte.

Zu Beginn des Buches musste ich mich ein bisschen reinlesen, da ich die teilweise recht derbe, direkte „Jugendslang-Sprache“ von Jessie etwas gewöhnungsbedürftig fand. Man begleitet zwar Levin aus der Ich-Perspektive, aber am Anfang spielt sein bester Freund eine große Rolle. Die Wortwahl passte jedoch zu dem extrovertierten jungen Mann, der sich von seinem Umfeld nichts sagen lassen will, provoziert und aneckt, ganz bewusst und manchmal mehr, als ihm guttut. Da Jessie, wie bereits angekündigt, verschwindet, hat man seine Äußerungen nicht durchweg. Levin ist gewählter in seinen Formulierungen, nicht so explosiv und derb. Auch so ist er deutlich ruhiger und zurückhaltender als Jessie, muss im Verlauf des Buches dann aber mehrfach über sich hinauswachsen und sich Situationen stellen, in denen er lieber nicht gesteckt hätte.
Im Jahr 2006 waren einige Dinge noch anders, sowohl was die Verbreitung und den Ausbau von Technik und solchen Dingen betrifft als auch die Akzeptanz für queere Personen, die in den letzten Jahren ja doch deutlich zugenommen hat. Diese Umstände beeinflussen die Geschichte und fließen in verschiedenen Situationen mit ein.

Durch die gewählte Perspektive erhält man detaillierte Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten, in der auf den 500 Seiten einiges los ist. Eine enorme Achterbahnfahrt, die nach einem kurzen, euphorischen Hoch in extreme, grausame Tiefen abstürzt und sich dann ganz mühsam Stück für Stück wieder hochkämpft. Levis Gedanken überschlagen sich streckenweise, er fasst Entschlüsse und verwirft diese wieder, er schmiedet Pläne, die er nicht umsetzen kann, er steht unsagbare Ängste aus, hat schon fast aufgegeben und schöpft dann wieder neue Hoffnung, lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein, um vielleicht eine Chance zu haben.
Als Außenstehender mag man eine klare Meinung haben, was Levin besser tun und machen sollte, aber ich schätze, wenn man selbst in so einer Situation steckt, ist vieles anders, vielleicht ist man nicht immer so rational, vielleicht trifft man auch mal falsche Entscheidungen oder lässt sich von dem beeinflussen, was man erlebt hat. Ich empfand ihn in sich als recht stimmig und fand gut, dass er viele seiner Gedanken und Gefühle reflektiert. Dadurch wird er noch greifbarer, bekommt noch mehr Tiefe und es wird eben auch klar, dass dem jungen Mann bewusst ist, dass man durchaus andere Entscheidungen treffen könnte und welche Beweggründe er hat, es nicht zu tun.

Ian, der im Verlauf des Buches neben Levi in den Fokus rückt, ist ein sehr vielschichtiger Charakter, den ich lange Zeit nicht wirklich greifen konnte. Ich hatte zwar meine Meinung zu ihm, durch seine Stimmungswechsel und die unterschiedlichen Verhaltensweisen hat er es einem aber auch nicht ganz leicht gemacht. Dass er ein Handicap mitbringt, war ein interessanter Fakt, der die Handlung immer wieder beeinflusst. (Ob da alle Darstellungen ganz realistisch waren, kann ich nur schwer einschätzen) Hinter Ians Fassade schlummert auf jeden Fall mehr, als man ahnt. Viel mehr. Da ich spoilerfrei zu ihm keine genaueren Ausführungen machen kann, belasse ich es an der Stelle dabei.

Das Buch enthält zwischendurch explizite Sexszenen. Ich fand, dass es von den Formulierungen zu den Charakteren passte, auch wenn es mich persönlich nicht komplett angesprochen hat. Die genutzten Begriffe tragen zur Gesamtstimmung bei, unterstützen die Lage der Figuren, sind aber eben nicht unbedingt meine Lieblingswörter. Eine seichtere/romantischere Wortwahl hätte zur stellenweise sehr heftigen Handlung aber nicht so gepasst. Es ist am Ende aber eben auch einfach totale Geschmackssache.

Umso weiter das Buch voranschreitet, umso mehr wird zunächst die Spannung gesteigert. Es wird ziemlich heftig, unheimlich, erschütternd und stellenweise auch ziemlich widerlich. Wie bei der Einordnung des Genres schon dabei steht, geht es innerhalb der Geschichte um Entführung, kein leichtes Thema, das viele schreckliche Erlebnisse und Gefühle mit sich bringt. Die Handlung ist in diesen Passagen düster, temporeich und aufwühlend. Umso kontrastreicher sind dazu die anderen Szenen, die es ebenfalls im Buch gibt. In diesen nicht ganz so erdrückenden Passagen bleibt eine gewisse Grundanspannung erhalten, wenn auch diese unheimliche Atmosphäre etwas abgemildert wird. Auch hier ist es schwierig das näher zu erläutern, ohne zu spoilern. Die Geschichte enthält auf jeden Fall viele verschiedene Themen, Emotionen und Aspekte, die ineinandergreifen, sich beeinflussen und Offenbarungen, die die Situation noch mal drehen. Auch zum Ende hin gab es noch mal ein paar Überraschungen. Nicht alle davon hätte ich gebraucht, ich konnte aber auch nachvollziehen, dass einige von ihnen für den Handlungsverlauf nützlich waren.

Fazit

Ein Buch, das ganz anders war, als ich es zunächst erwartet hatte. Auch wenn ich wusste, in welche Genre es eingeordnet wird, war es streckenweise noch heftiger und düsterer als ich gedacht hatte und entwickelte sich insgesamt auch von der Handlung an sich ganz anders, als ich zu Beginn noch dachte. Eine vielseitige und facettenreiche Mischung an Themen, Emotionen und Handlungsverläufen, die den Charakteren und den Lesenden einiges abverlangt. Keine leichte Kost, aber in jedem Fall ein interessanter, düsterer Mix, der mich immer wieder überrascht hat.

Ich danke dem Verlag für das bereitgestellte Rezensionsexemplar.

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