Rezensionsexemplar
![]() © Carlsen | Atlas, Elena und das Ende der Welt . Anna Woltz erschienen im August 2024 192 Seiten ab 12 Jahren . hier geht’s zum Verlag → Carlsen |
tolle Dynamik, regt zum Nachdenken an
Manchmal kann ein Moment alles verändern. Das musste auch die Dreizehnjährige Elena feststellen, nachdem sie ein neues Video auf ihren Social Media Account gestellt hatte. Ein Video, mit dem sie niemals erreichen wollte, was danach passiert ist. Das jedoch interessiert dann niemanden mehr. Die Hasskommentare und Anfeindungen häufen sich, ihre Freunde wenden sich von ihr ab und sie möchte nur noch eins: weg aus ihrem Umfeld. Eine Flucht, in der Hoffnung, dass sich dann alles ein wenig beruhigt. Aber auch mit der Hoffnung, dass sie an einem anderen Ort einfach wieder ein bisschen mehr sie selbst sein kann, wenn man dort nicht von den Ereignissen weiß.
Die Farm ihrer Tante ist abgeschieden gelegen, viel Kontakt zur Außenwelt muss Elena also nicht haben. Allerdings geben ihr die Umstände auf der Farm und der verschlossene Atlas mit seinem undurchsichtigen Verhalten reichlich Gründe für Misstrauen und Zweifel.
Die Geschichte wird im Wechsel aus den Ich-Perspektiven von Elena und Atlas geschildert, wobei die Länge der Kapitel ein wenig variiert. So hat man die Möglichkeit, beide Protagonisten nach und nach besser kennenzulernen und Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswerten zu bekommen, die sie teilweise vor ihrer Außenwelt verbergen. Auch was sie über den jeweils anderen denken und was sie sich erhoffen wird dadurch für die Lesenden deutlich. Mit der Zeit beginnen Elena und Atlas hinter die Mauern des jeweils anderen zu schauen und verstehen damit die Verhaltensweisen immer besser.
Beide Protagonisten haben so ihre Eigenarten, auch wenn sie recht verschieden sind. Elena ist ein Stadtkind, kennt sich nicht besonders gut in der Natur aus und würde sich ohne Hilfsmittel auch nicht so gut zurechtfinden. Atlas hingegen hat gelernt, die Natur zu lesen, sich am Stand der Sonne und Dingen in seiner Umgebung zu orientieren. Ihre Vorstellungen und Einstellungen sind ziemlich verschieden und doch gibt es auch manche Gedanken die sie teilen oder die zumindest recht ähnlich sind. Beide sind geprägt von Ängsten, Zweifeln und Geheimnissen. Und manchmal wird man dann von den Menschen aus seinem Umfeld auch auf positive Weise überrascht.
Der Stil der Geschichte hat mir richtig gut gefallen. Man kann sich in die Protagonisten einfühlen, ihre Gedanken werden insgesamt nachvollziehbar geschildert. Selbst wenn man manche Dinge selbst vielleicht nicht so sieht, wird greifbar, wieso es ihnen in ihren jeweiligen Situationen so geht, was sie beschäftigt und bewegt. Nicht immer handeln die beiden rational. Sie lassen sich auch mal von ihren Gefühlen und Ängsten übermannen, was ich für das Alter jedoch auch verständlich finde. Nicht immer können sie die Konsequenzen ihres Handelns abschätzen. Und mit einigen negativen Erfahrungen wird man auch einfacher vorsichtiger, wem man sich anvertraut. Besonders wenn man selbst erwartet, dass andere nicht verstehen, wieso man Dinge macht oder denkt.
Viele der Kapitel sind sehr kurz, wodurch rasche Wechsel erfolgen. Stellenweise wird damit das Tempo in der Geschichte noch mal erhöht und man erhält ein schönes Zusammenspiel der beiden Perspektiven, die sich immer wieder ergänzen und voneinander beeinflusst werden. Immer wieder gibt es schöne Gespräche, die den Beteiligten manche Dinge vor Augen führen und sie stark zum Nachdenken anregen.
Thematisiert wird zum Beispiel die Schnelllebigkeit und Anonymität in der Stadt, die Scheinwelt, die stellenweise geschaffen wird, immer mit dem strahlendsten Bild nach außen, selbst wenn man sich eigentlich nicht so fühlt. Eingeflochten in die Handlung sind auch Missverständnisse, neue Freundschaften, Auswirkungen von Krankheiten, Zusammenhalt und nützliche Dinge für Ausflüge in die Natur. Integriert sind auch Themen wie Toleranz und Akzeptanz, dass man nicht immer gleich urteilen und verurteilen sollte und lieber offen bleiben sollte für die Gedankengänge und Ansichten von anderen. Man sollte nicht blind alles glauben oder ohne nachzudenken irgendwas auf sich selbst ummünzen.
Ich mochte die Dynamik der Geschichte. Immer wieder brechen auch die Emotionen aus den Jugendlichen heraus, nicht immer können sie ihre eigenen Gedanken und Gefühle wirklich greifen und ordnen. Umso ehrlicher sind da dann teilweise aber auch ihre Reaktionen, die ihnen immer wieder Anstoß zum Nachdenken geben. Gut gefallen hat mir auch die Entschleunigung, die Elena durch das ruhigere Leben auf dem Hof der Tante erlebt. Sie muss mit anpacken und kann sich dabei ganz auf Sachen konzentrieren, die sie nie zuvor gemacht hat – wenn zunächst auch nicht ganz freiwillig. Die Last und der Druck der Geheimnisse und Erlebnisse bröckelt Stück für Stück von den Schultern der Protagonisten ab und auch wenn nicht immer alles einfach und geradlinig verläuft, so erhält man beim Lesen schon den Eindruck, dass sie mit der Zeit etwas leichter atmen können.
Fazit
Eine tolle, einfühlsam geschriebene Geschichte, in der zwei Welten aufeinander prallen, die aber doch gewisse Gemeinsamkeiten haben. Auch wenn Elena nicht unbedingt freiwillig in die Einöde geht, so ist es doch eine Erleichterung weg zu sein von den Anfeindungen, dem Druck, der Ignoranz und all den Sachen, über die sie gerade nicht nachdenken möchte. Dafür prasseln nun andere Eindrücke auf sie ein, sie macht neue Erfahrungen und durchdenkt Gedankengänge, die sie nie zuvor hatte. Manchmal kann sie selbst nicht ganz greifen, was da in ihrem Kopf vorgeht, aber insgesamt sind es schön zu verfolgende Entwicklungen, die ihr ein stückweit die Augen dafür öffnen, dass es wichtigere Dinge gibt als die, die sie bisher für wichtig empfunden hat. Vielleicht ist manches etwas drastisch dargestellt, aber ich mochte die Entwicklungen und die Herangehensweise, weil die Impulsivität der Teenager gut zum Tragen kommt. In dem Alter sind viele Dinge gerade im Umbruch, man erlebt viel Unverständnis und muss selbst erst mal herausfinden, wer man ist und wie man sein möchte. Was es mit „Dem Ende der Welt“ auf sich hat, erschließt sich im Verlauf der Geschichte auch sehr gut, dazu möchte ich hier aber nicht spoilern.
Ich danke dem Verlag für das bereitgestellte Rezensionsexemplar.